lebenswunder

KÖNIG ALLER KÖNIGE                 JESUS CHRISTUS             HERR ALLER HERREN  

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   aktualisiert 11.09.2021 / 21.06.2006

 

LEBENSWUNDER

 

Staunen erfüllt alle Zuhörer, wie stets, wenn der Weise spricht.

 

Der sieht zum Mond empor, neigt sich zur Königin der Nacht und sagt nach kurzem, prüfenden Blick: "Wir wollen nun scharf die Knospe hier beobachten! In kaum fünf Minuten werden die gelben Kelchfähnchen sich zu bewegen beginnen."

 

Alle verlassen ihre Plätze und stellen sich dicht vor die mannshohe, schlanke Säule, gespannt auf die Knospe blickend, die sich ungefähr in halber Höhe befindet. Da geht auch schon ein leises Zerren durch die vielen goldgelben Lanzettblättchen, ein Zucken läuft mehrmals durch sie, und behutsam öffnen sich die Kapselbänder wie zahlreiche zum Himmel erhobene Finger.

 

 

 

 

Königin der Nacht

 

 

In schneeiger Keuschheit liegt die Krone im Ring der goldenen Hüllblätter. Nach geraumer Zeit öffnet sich mit leisem Ruck der Kelch. Langsam, ganz, ganz langsam lösen sich die weissen Blätter, spreiten sie sich, offenbart sich ein himmlischer Stern!

 

 

 

 

Doch so herrlich das Erleben bisher war, das Göttlichste erschliesst sich erst jetzt ihren Blicken. Ein goldgelber Kranz von langen, fadendünnen, leise erzitternden Staubgefässen richtet sich auf zu einem himmlischen Kronenreif, in inbrünstiger Liebe die sternförmige Narbe umgebend, die nun in silbriger Mondnacht dem heiligsten Mysterium des Lebens entgegenharrt.

 

 

 

 

Dazu entströmt dem Kelch ein unirdischer Duft, dass alle wie beklommen sind. Atem des Göttlichen umweht sie.

Sie wissen nicht, wie lange sie geschaut, wie sie sich gesetzt. Sie hören nur plötzlich die Stimme des würdevollen Fremden, welche durch die Stille der Nacht klingt, als käme sie von weit her; Raunen von oben. Und die Stimme redete also:

 

"Gross ist die Stunde, Brüder, die ihr erlebt. Grösser, als ihr es trotz der Schauer, die eure Seelen durchfliessen, ahnt! Wir haben das Mysterium des Lebens geschaut. Wir haben die Offenbarung vom Sinn des Lebens mitgefeiert.

 

 

Wer von euch hat es begriffen? Wer von euch hat das Walten der ewigen Macht erfasst?

 

Alle aber fühlen wir ein Erschauern in uns, die grenzenlose Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens! Und uns allen ist es, als wären wir der Gottheit selber nahe gewesen, als hätte uns der Hauch ihres Odems berührt! Ja, Brüder, gross ist die Stunde und heilig!

 

 

Gross und heilig ist die Stunde des Blühens!

 

Sieben Jahre in Gleichmut stand diese unscheinbare, beinahe unschöne, stachelbewehrte Stange. Wäre sie nicht Jahr um Jahr ein Stück grösser geworden, wahrlich, man hätte nicht gewusst, dass sie lebte!

 

 

Was ging all die sieben Jahre in ihr vor? Was fühlte sie, was ersehnte sie? Was wissen wir von ihrem Streben?

 

Und plötzlich weiss sie, dass ihre Zeit da ist, treibt sie eine Knospe, bildet sie eine Blüte von nicht mehr irdischer, sondern himmlischer Schönheit!

 

 

Ist das nicht Zauberei?!

 

Gedankenlos blickt der Mensch gewöhnlich auf die Blüte. Die aber, die in der heutigen Zeit noch Sinn und Liebe für ein Blütenwunder haben, die es noch zu beglücken, denen es noch ein Erlebnis zu sein vermag, die nehmen es dankbar als ein Geschenk der Natur.

 

Und doch müsste jede einzelne Blüte auf Erden, wo immer sie steht, die Menschen mit Unruhe erfüllen und in ihnen ein Ahnen erwecken, das sie, wenn sie sich noch Zeit nähmen für die unauffälligen Predigten Gottes und sich diesem Ahnen tief genug hingäben - unentrinnbar in den Schoss der Gottheit führen würde!

 

 

Wenn alle Gotteshäuser der Erde versänken und alle heiligen Bücher verloren gingen,

 

vermöchte allein diese eine Blüte dem, der willens ist zu hören, Kirche und Buch und Predigt des Priesters zu ersetzen, vermöchte ihn fromm zu machen und demütig. Denn wer sich der Sprache dieser Blüte hingäbe mit aller Inbrunst, der würde den Ewigen selber schauen!

 

Die Menschen aber haben so wenig Zeit mehr für das Göttliche - und Gottes Predigten sind ganz, ganz leise, denn der Ewige liebt es, keinen Lärm zu machen.

 

Viele aber fragen mit Spott und Geringschätzung, wo denn das Göttliche zu suchen und zu finden sei - denn sie seien ihm nirgends begegnet. Und sie lachen und sagen, Gott sei lange, lange gestorben. Und sie sagen, dass es nichts Göttliches in der Welt gebe, die Seele ein blosses Gerede wäre und das Leben nichts anderes sei, als das Ergebnis aus Kraft und Stoff.

 

 

Wie arm ist die Welt geworden, wie leer an Licht die Herzen

 

solcher Menschen! Ihnen ist das Leben kein Wunder mehr, ihnen ist das Sein ein Jammertal. Freudlos ist ihr Weg.

 

Wie anders dagegen jener, der sich dem Raunen der Natur noch hinzugeben, der noch zu hören vermag! Er sucht das Wunder nicht in den Winden, er richtet sein Auge nicht in die Fernen - er fühlt den Hauch des göttlichen Lebens allüberall, sieht ringsum das Wunder, fühlt sich eins mit allem Seienden und in dieser Gemeinsamkeit innig verbunden mit Gott.

 

 

So kommt und lasset uns mit feinem Ohr hinhören, was diese königliche Blüte predigt!

 

Hier hält der Sprecher ein, als wolle er seinen ehrfürchtig lauschenden Hörern Gelegenheit geben zur Kraftsammlung für neues Erleben, dann führt er fort: Noch einmal sage ich: Gross und heilig ist das Mysterium des Blühens!

 

 

Wieso brach aus dieser herben Stachelstange diese Blüte? Woher nimmt sie die Fähigkeit sie zu bilden?

 

Kein Gelehrter der Welt vermag uns zu sagen, wie das gemacht wird, welchen Gesetzen sie folgt, um dieses Wunder hervorzubringen. Über alle Massen sinnvoll und schön an Form und Symmetrie ist diese Blüte, wie sie die Phantasie eines Künstlers nicht vollendeter ausdenken könnte!

 

 

Woher hat die Pflanze den Plan? Woher die künstlerischen Gaben, sie nach diesem Plan zu formen?

 

Was für unerklärliche, unfassbare Kräfte müssen in diesem schlichten Kaktus am Werke sein, um ein derart vollendetes Kunstwerk zu schaffen!

 

 

Oder ist das alles bloss Zufall?

 

Was ist das aber dann für ein seltsamer Zufall, der immer wieder mit mathematischer Genauigkeit durch die Jahrmillionen dasselbe wiederholt, ohne sich zu irren! Im Worte Zufall liegt das Einmalige, Unplanmässige. Hier aber, wie überall in der Natur, stehen wir vor einem ehernen, sinnvollen Gesetz!

 

 

Wenn diese Blüte aber kein Zufall ist, wieso kam diese Königin der Nacht zu der ihr eigenen Gestalt und zu dieser zauberhaft schönen und wunderbaren Blüte? Was sind das für Kräfte in ihr? Warum bewirken sie bei ihr gerade dies? Woher stammen sie?

 

Eine Frage gewichtiger als die andere; erdrückend in ihrer Gewalt, unlösbar ihr Geheimnis.

 

 

Können wir auch nur einen Augenblick zweifeln, wenn wir diese planmässigen Schönheiten und Gesetzmässigkeiten sehen, dass diese Kräfte intelligent sein müssen?

 

Woher sonst alle diese organisierten, individuellen, charakteristischen Formen!

 

 

Und woher überhaupt diese Formen? Woher die Pläne, die ihnen zugrunde liegen? Und warum diese Mannigfaltigkeit an Pflanzenbildungen?

 

An 200 000 Pflanzenformen trägt die Erde.

 

 

Wozu? Warum nicht ein paar Hundert, warum nicht ein paar Dutzend?

 

Schon eine Form allein vermöchte der Mittler zu sein zwischen Stein und Tier. Vermöchte der Tierwelt die Existenz zu ermöglichen, die ihr die Erde allein mit all ihren unermesslichen Gold- und Diamantenfeldern nicht bieten kann.

 

 

Welches ist der Zweck dieser Vielheit?

 

Sie muss einen Sinn haben! Die Natur kennt keine Sinnlosigkeit, ebenso wenig wie sie Leichtsinn kennt! Die Natur ist ewig und überall grenzenlos weise.

 

 

Und zu welchem Zwecke dieses beinah an Prunksucht grenzende und weit über ihre Bestimmung hinausgehende Übermass an Schönheit der Blütenformen und -farben? Ist es der Ausdruck von Freude? Ist es ein künstlerisches Schaffensschwelgen? Wer aber freut sich bei diesem Schwelgen? Oder ist auch dies alles, dieser Ausdruck höchster Künstlerschaft, blosser Zufall? Ist es denkbar, dass sinnloser Zufall ein so göttlicher Künstler sein kann? Das unerreichbare Vorbild aller Gottbegnadeten?

 

Wie wäre dies seltsam! Und wie wäre der Gedanke traurig! Sehet dies himmlische Wunder dort! Aus dem Zufall soll es geboren sein! Dann ist es das lieblose Werk der Gleichgültigkeit, denn Zufall ist Unbewusstheit und somit Teilnahmslosigkeit! O sagt, könnt ihr euch dies denken!?

 

 

Jauchzet euch nicht dieses Blütenmirakel zu, dass Liebe und Freude es gebaut haben?

 

Wir können nicht anders denken, wenn wir uns gründlich darein versenken! Freuende Liebe aber ist Schöpferlust! Und wieder stehen wir dann vor der Frage:

 

 

Wer empfindet diese Lust, wer ist ihr Schöpfer?

 

Umwehet euch nicht leiser Hauch des Göttlichen?

 

Doch damit lange nicht genug. Warum alle Farben in allen Abstufungen, die nur möglich sind! Wenn aber schon alle Farben sein müssen,

 

 

wozu diese verschwenderische, unnütz erscheinende, jedoch in der Farbenharmonie stets von vollendetstem Geschmacke zeugende Vielfarbigkeit der einzelnen Blüten? Und wieso statt buntem Kunterbunt der Farben diese geometrisch genaue Regelmässigkeit? Wiederum Zufall?

 

Ein gar seltsamer Zufall!

 

 

Oder ist auch dahinter ein Etwas, ein Sinn verborgen?

Denn wie anders, als durch die Annahme eines Willens, eines Gesetzes, ist dieses zähe Festhalten, diese stete, peinlich genaue Wiederkehr scheinbarer Nutzlosigkeiten erklärbar!

 

 

Wer denkt darüber nach?

 

Die Menschen machen es sich in ihrer Flüchtigkeit leicht und sagen: Es ist so, und somit ist es selbstverständlich! Es ist aber nichts selbstverständlich, sondern alles ein grosses, unlösbares Rätsel. Es ist alles ein Wunder.

 

 

Und wieso irrt sich die Pflanze in ihren Lebensgesetzen nie? Wie oft irren Menschen?

 

Es ist noch nie vorgekommen, dass eine Pflanze sich geirrt hätte!

 

 

Was ist das? Ist dies nicht unheimlich?

 

Seht diese göttliche Blüte! Das leuchtende Gold der Kelchblättchen, das Schwanenweiss der Blütenkrone!

 

 

Wieso verwechselt sie nie die Farben?

 

Woher weiss sie überhaupt, dass sie, nachdem sie durch sieben endlose Jahre den Schaft grün gemacht hat - eine Zeit, die jedem Menschen derart zur Einförmigkeit würde, dass er nichts anderes mehr dächte -, auf einmal andere Farben anwenden muss! Ist das nicht über alle Massen überwältigend?

 

 

Warum macht sie nicht ruhig, mechanisch die Blüte auch grün?

 

Ihr werdet vielleicht sagen das kann sie nicht, es zwingt sie ein Gesetz. Kaum aber sagt ihr dies, stehn wir schon wieder vor dem grossen, namenlosen Etwas, weht es uns wie ein Hauch vom Webstuhl des Göttlichen entgegen. Und nun wohl eine der ungeheuerlichsten Fragen überhaupt:

 

 

Wie vermag die Pflanze diese verschiedensten, leuchtendsten Farben aus dem gleichen Lebenssafte zu zaubern?

 

Unsere Grandiflorus (Königin der Nacht) gold und weiss, die Gladiole das feurigste Zinnober, die Schwertlilie das dunkelste Violett! Welch tiefes chemisches Können! Welch unergründliches Geheimnis! Und gleich die andere Frage, nicht weniger gross und wuchtig:

 

 

Wie vermag sie das aus dem gleichen Häufchen Erde? Wie stellen die Pflanzen dies an? Und warum macht es jede anders?

 

Und dann:

 

 

Wer sagt ihr die Zeit des Blütenerwachens? - Die Sonne?

 

Weshalb aber erblüht dann jede Pflanze zu anderer Stunde?

 

Früh morgens steigt die Lotosblume Indiens wie eine keusche Nixe aus dem Wasser, duftet, blüht und sinkt lautlos wieder unter den glatten Spiegel, wenn sich die Bahn des goldenen Rades gegen Abend senkt. Um zwölf Uhr mittags erst, wenn die Glut der Sonne schon stundelang auf der Erde brütet, öffnet die Passionsblume leise ihren Schrein.

 

 

Warum nicht zugleich mit der Lotosblume und allen anderen Morgenblütlern? Wieso versagt bei ihr die Gewalt der Sonne?

 

Die Gewalt die so mächtig ist, dass ihre Glut ganze Länder versengen kann. Was muss das für ein grosses Geheimnis, was muss das für ein eherner Wille sein, der stärker ist als der lockende Morgenruf des Lichtgottes!

 

Es muss ein Gesetz sein, ein weises, uns Menschen unerforschliches Gesetz, das jeder Blume aus ihrem verborgenen Lebensrhythmus heraus die Stunde vorschreibt, in der sie ihr heiligstes auf dem Altar des Lebens festlich darbringen soll. Und die Königin der Nacht!

 

 

Warum opfert sie dem Gotte des Himmels nicht?

 

Warum erschliesst sie ihr heiliges Tabernakel erst, wenn die erste Stunde nach Mitternacht voll geworden ist? Geschieht es aus Demut? Oder ist ihr Lebenshauch so zart, dass er die Gewalt der Sonne nicht erträgt? Oder ist sie mit der ganzen Hingabe ihrer Liebe dem milden, verträumten Silberprinzen verfallen? Wer weiss den Grund?

 

Eines nur ist sicher: Die Bl�ten erschliessen sich nicht achtlos dem Sonnenstrahl! Oh, es ist der R�tsel kein Ende! Wonneselig, wie leise, leise Musik, aus weiter Ferne hergetragen, str�mt ihr Duft zu uns. Tiefste R�hrung �berw�ltigt mich.

 

 

Woher nimmt sie diesen Duft? Und was ist es, dass die eine lieblich wie die Wunder des Himmels duftet, die andere betäubt, die dritte bestrickt und die vierte so dämonischen Pestatem ausströmt, dass wir sie fliehen? Und wiederum alles aus dem gleichen Stück Erde! Aus welchen stofflichen Teilen besteht er? Durch welchen Vorgang wird er erzeugt?

 

Frage um Frage, Rätsel um Rätsel! So unermesslich ist die Zahl der ungeklärten Wunder, dass es den Oberflächlichen besinnlich, den Stolzesten demütig machen müsste, so er auf die Sprache der Natur hörte!

 

 

Wie aber wirkt es auf den Forschenden, Grübelnden?"

 

Der Weise schweigt. Die Zuhörer sind wie gebannt und hängen förmlich an seinem Munde. Es ist eine heilige Unruhe in ihnen, die sehnlich auf sein Weiterreden harrt. Selig duftet die Blüte.

 

Und der Erhabene fährt also fort: - Ja, die Schöpfung ist ein einziges unausdenkbares Wunder, und in ihren Wundern ein Quell der Schönheit und der Freude, der unerschöpflich ist. Und wo immer ihr hinblickt, seht ihr nur Schönheit, und so wie ihr die rechte Liebe aufwendet und das Wunder sorgfältig zu betrachten beginnt, ob es ein silberflügliges Mücklein ist oder diese Blüte hier - im selben Augenblick schliesst eine Schönheit die andere auf, öffnet sich Türe um Türe zu immer neuen, immer , immer tieferen Geheimnissen, gibt euch das Mirakel eure Liebe so tausendfältig zurück, dass sich euer Sinn verwirren will ob dieser nie versiegenden Wunder jeder Lebensform.

 

Und je mehr ihr in die Tiefe der Rätsel steigt, umso geheimnisvoller, unerklärlicher, umso göttlicher werden sie. Was hat uns diese Blüte der Königin der Nacht für eine Fülle ungelöster Fragen gewiesen! Und doch ist eine der allerschwergewichtigsten noch nicht gestellt!

 

 

Die weltentiefe Frage, wie die Pflanze überhaupt aus der Erde Lebenssaft zu ziehen vermag? Durch welches Können, welche Vorgänge sie Erde in göttliches Lebenselixier verwandelt?!

 

Keinem Gelehrten der Welt, soviel er auch geforscht und versucht, ist dies je gelungen!

 

Achtlos geht der Mensch an diesen Wesen vorbei, und während sein Fuss sie gleichgültig zu Boden tritt, ahnt er nicht, dass sie, die Stillen, Demütigen, es sind, die ihm das Leben ermöglichen. Denn gefiele es dem Ewigen, die Pflanzen verdorren zu lassen, und jätete er sie aus den Gärten der Welt - zur selbigen Stunde würden die Sensen des Todes in die Scharen der Tiere und in die Reihen der Menschen fallen, sie erbarmungslos mähend, bis das letzte Geschöpf dahingesunken. Und die Sicheln des Hungertodes würden den Adler treffen im höchsten Blau des Himmels und den weisesten Gelehrten inmitten seiner Fülle von Retorten und all seinem weltumspannenden Wissen. Denn mit ihrem Hinsterben würe die Brücke zerschlagen, die das Anorganische mit dem Organischen verbindet. Und wenn sich die Erde erbarmte ob dieses grauenhaften Sterbens und die Brust aufrisse, dem Pelikan gleich den Verhungernden ihr Kostbarstes gebend, und all ihre Schätze an edlen Steinen und wertvollen Metallen böte, dass darob der Schein der Sonne verblasste - es hülfe nichts! Elend müssten die Wesen verderben, denn begraben mit ihrem Tode hätte die letzte Pflanze das grosse Geheimnis ihrer Sippe.

 

So ist unser aller Leben in die Hand der Schweigsamen gegeben, die einzig und allein den Schlüssel haben, der das Anorganische in Leben verwandelt.

 

Die Pflanzen sind die grossen Alchimisten der Erde, die in Myriaden von Tiegeln und Retorten aus den Mineralien des Bodens, den Wassern der Atmosphäre und den unsichtbaren Strömen der Sonne Säfte mischen und verwandeln und aus ihnen die Elixiere des Lebens brauen.

 

Und so gross ihre Demut ist, so heilig ist ihre Reinheit! Kein Tier, kein Mensch ist so rein wie die Pflanze, denn ihre Nahrung ist das Wasser des Himmels und der Strahl der Sonne!

 

Wer wird da nicht bescheiden und in sich versunken, wenn er diese Gedanken durch seine Seele ziehen lässt! Wen überwältigt nicht Dankbarkeit gegen jene, an denen er so achtlos vorbeiging! Wem steigt nicht Scham ins Herz, und eine heisse, brennende Abbitte, dass er denen nicht mehr Liebe, mehr Achtsamkeit entgegengebracht, die unsere Nährmütter sind!

 

 

Und wer redet noch abfällig von der Unscheinbarsten unter ihnen? Wer wagt es noch sinnlos Blüten zu raffen und Äste zu brechen? Oder ärgerlich das Wort Unkraut zu sagen?

 

Das scheinbar nutzloseste ist heilig; das scheinbar Zweckloseste trägt in seiner Hand den Schlüssel zu unserem Leben! Die Völker des Morgenlandes wissen dies und verehren die Pflanzen und lieben sie. Hegen sie als Bruderwesen und halten sie heilig. Nie begegnen sie ihnen achtlos, nie sind sie ihnen gleichgültig! Vielleicht ist überhaupt erst die Hartherzigkeit in die Welt gekommen, als die Achtlosigkeit gegen die Pflanze begann! Und vielleicht ist umgekehrt im brutalen Menschen der Urzeit erst in dem Augenblick das Gemüt erwacht, als die Blume sein wildes Herz zu erfreuen begann! Doch die Menschen des Abendlandes haben die Wege zum tiefen Sinn der Blumen verloren! Und sie haben damit das Wissen verloren, dass die höchste Krone des Lebens uneigennützige Liebe ist! Ach, dass sie sich doch bloss einen Tag im Jahre vom frühen Morgen bis zur sinkenden Sonne mit den Blumen beschäftigten! Sich ihnen hingäben, sich in sie versenkten! Die Blumen würden unmerklich und allmählich den obersten Götzen der Menschen von seinem goldgleissenden Throne vertreiben: die ewig hungrige, unerbittliche Ichsucht1 Diese Hingabe an die Blumen würde den Menschen den wahren Sinn des Lebens offenbaren und ihnen die Seligkeiten der All-Liebe erschliessen.

 

Wie betrübt es mein Herz, wenn ich welkenden, lechzenden Blumen begegne, die achtlose Menschhand nach froher Festesfeier teilnahmslos auf die Strasse geworfen hat.

 

 

Warum ist der Mensch so flüchtig gegen jene, die ihm so viel Freude spenden und demütig in Liebe dienen?

 

Zärtlich trägt der Sohn des Morgenlandes die Welkenden an das fliessende Wasser, sie mit freundlichem Dankesgruss den Wellen übergebend. Und so lange sie den Wohnraum mit ihrer Schönheit begnaden, wird der Gast sich erst vor ihnen neigen, ehe er den Herrn des Hauses grüsst. Und es gibt heute noch unzählige Menschen drüben, die sich zu sündig fühlen, in ehrfürchtiger Liebe die Reinen zu pflücken, und die ihre Gäste, wenn sie ihnen eine besondere Freude bereiten wollen, an die Stelle ihrer Gärten und Parks führen, wo der Lotos duftet oder der Pfirsichbaum blüht.

 

Wie oberflächlich dagegen geht das Abendland mit den Pflanzen um! Wer empfindet sie als Wesen, wer begegnet ihnen mit der Achtung, die man dem Lebendigen zu zollen hat!

 

 

Wie viele Menschen brechen sie in dem Wunsche, Heiliges im Heime zu haben?

 

Oberflächliche Lust am Schönen, in dessen tiefere Mysterien jedoch fast niemand dringt, ist der gewöhnliche Grund des Pflückens.

 

Sie ist ihnen nur Augenweide, Sinnenlust - und leider so selten religiöses Erleben, feierliche Ehrfurcht vor dem grenzenlosen Wunder des Lebens! Wie freue ich mich Brüder, und wie danke ich es euch, hier im stillen Garten nach langer Zeit wieder mit Menschen das Fest der lebendigen Blume feiern zu können!"

 

Und wieder schweigt der grosse Prediger. - Dunkles Ahnen blüht in den Herzen der Hörer zu heiliger Liebe auf. Glückliche Augen lassen die Blicke hingebend zur göttlichen Blüte gehen.

 

Und abermals beginnt der Erhabene zu sprechen: "Heilig ist die Pflanze und ein einziges Mysterium mit tausend unlösbaren Rätseln des Lebens. Doch das grösste Rätsel birgt das Samenkorn! Schon sein Entstehen aus dem duftzarten, keuschen Blütengebilde ist in einen Zauber der Schönheit eingebettet, der nicht auszusprechen ist! Und dieses Rätsel ist lange nicht ausgeschöpft und geklärt mit der Tatsache: "Pollenkörnlein vereinen sich mit der harrenden Narbe!" Tausend Fragen steigen dem auf, der denkend sich in dieses Mysterium versenkt.

 

 

Wie spaltet sich das Leben jenes Apfelbaumes dort in den unzähligen kleinen Samenkörnchen seiner Früchte in die Vielheit, ohne dass er selbst an seiner Einheit etwas einbüsst? Und wie wächst sich nachher jedes seiner Lebensfünkchen zur vollen Einheit aus?

 

Jedes ein Teil vom Gottesfunken jenes Apfelbaumes, und dennoch ein volles Ganzes in jedem einzelnen der unzähligen Samenkörner!

 

 

Offenbart nicht jede Pflanze das heiligste Schöpfungsmysterium?

 

Zeigt uns nicht jede Pflanze - wenn uns auch das Geschehen unergründlich bleibt -, wie Gott das Leben schuf: Sich in die Vielheit giessend, dennoch vollkommen Einheit bleibend!

 

 

Was ist dies für ein Rätsel, diese uns allüberall und immerzu begegnende, wirkende, webende, treibende Kraft, welche die Menschen das Leben nennen?

 

Viele Tausende von Jahren ruht ein Becher mit Nilkorn in der Kühle der Pyramide am Prunksarg des grossen Pharao. Nach Tausenden von Jahren wühlt ihn neugieriger Menschen Hand ans Licht der Sonne, fällt das Roggenkorn, dessen Halme ein längst versunkenes Volk gemäht, in die Erde - und siehe, o Wunder, grüner Keim spriesst auf, wächst, steigt, blüht, und schwankende, segenschwere Ähren wiegen sich im Abendwinde.

 

 

Wen durchrieseln da nicht ehrfurchtsvolle Schauer? Wessen Herz wird da nicht durchrüttelt bis in die Tiefe?

 

Was ist das für eine unheimliche, Menschenzeitalter überdauernde Kraft, die im Innern des Samenkorns ruht! Völker vergehen wie der Schnee im Frühlingssturme, Jahrtausende rauschen dahin und tragen auf ihren Schultern das ewige Sterben - und dieses winzige Körnlein trotzt! Wen weht da nicht der Hauch des Göttlichen an!

 

Doch nicht genug damit, solange der Schlaf auch währte, das Körnlein hat nicht nur das Leben, es hat auch ein Zweites nicht verloren, das den Denkenden mit nicht geringerem Staunen erfüllt: sein Artwissen!

 

Über die brausende, tosende Flut der Jahrtausende hinweg, in der Kulturen versinken und Menschen heiligstes Wissen und Religionen vergessen, hat dieses winzige Körnlein treu das Wissen um seine Art bewahrt! Fern davon, dass es sich je so weit verlöre und etwa ein Rosenstrauch oder eine Lilie würde, irrt es sich selbst innerhalb seiner Familie nie, vielleicht ein Hafer- oder Gerstenhalm werdend. Nie ist das ein noch das andere jemals in der ganzen Pflanzenwelt vorgekommen.

 

 

Was ist das für eine unerhörte Gabe des Ichbewusstseins im unscheinbaren Korn, das nie, selbst durch Jahrtausende, erlischt oder einschläft? Wagt hier auch noch jemand von Zufall zu reden?

 

Zufall, der sich als ehernes, göttliches Weltgesetz zeigt! Die Menschen sprechen von Artinstinkt.

 

 

Was ist das aber, der Artinstinkt? Wie kam er ins Korn? Wie lebt und webt er? Inwieweit sind diese unverwüstliche Lebenskraft und dieser Artinstinkt miteinander verwandt, verschwistert? Oder sind sie am Ende eine Kraft! Wer weiss es? Was wissen wir alle darüber?!

 

Seit Menschen denken, ist dies eine von jenen Fragen, die sie am nachhaltigsten beschäftigen, denn wohin das Menschenauge sah, ob ins Reich der Pflanzen, auf die von ihr losgelöste Blüte, den Schmetterling und das Heer der Insekten, und von ihnen auf die Tierwelt überhaupt, oder in die eigene Brust - überall fanden sie den Pulsschlag des Einen, Grossen, Ungeheuerlichen: den Pulsschlag des Lebens!

 

 

Doch was ist LEBEN?

 

Das Leben, das in der Mikrobe ebenso leidenschaftlich glüht und hämmert, sucht und kämpft und ringt und strebt und fühlt, wie in der Brust des grössten Forschers.

 

 

Was ist es?!

 

In Millionen und aber Millionen von Formen ist es am Werk, baut und bildet es Tag und Nacht. Richtet es Dome auf von unglaublicher Schönheit aus unscheinbarem Samen. Pocht es in einer Überfülle von Geschöpfen, die selbst Gott nicht zu zählen vermag.

 

Menschen, die Kopf und Augen von Propheten und Sehern hatten, sagten: Alles stammt aus Gott und lebt durch Gott, und kein Mensch wird je den Sinn des Lebens und sein Geheimnis ganz ergründen, ebenso wenig, wie er je Gott schauen wird.

 

Andere aber bäumten sich in Stolz auf, durchsuchten die Räume der Welten, durchwühlten die Leiber der Geschöpfe, und da sich ihren Augen und ihrem Willen nirgends Gott zeigte, das Geistige sich nirgends sichtbarlich vorfand, sagten sie hart und feindselig: Es gibt keinen Gott, ebenso wenig wie es ein Göttliches, Geistiges in den Geschöpfen gibt! Wir finden immer nur eines: den Stoff! Stoff allein und keinen Geist!

 

 

Wie aber entstand dann dieser göttliche Dom aus dem Samenkorn?

 

Das Korn an sich ist Materie wie ein Häufchen Erde. Und Erde zu Erde gelegt, hat noch nie Leben gegeben, ebenso wenig, wie Erde an sich allein keine Pflanze, kein Tier je schuf! Denn Materie an sich ist bewegungslos und bestimmungslos! Nie ist es Erde aus sich selbst eingefallen, sich zu türmen, zu wachsen, zu bauen, ein Gebilde zu schaffen, das lebt!

 

 

Und das Samenkorn, das doch nur Materie sein soll, kann es! Wer baut durch die Jahrmillionen fort und fort diese Lebenswunder aus winzigen Körnern?

 

Es ist sinnlos, zu denken, dass Materie dies aus sich selber heraus kann!

 

Man kam zwingend notwendig zu einer Kraft, die im Samen, also in der Materie steckt, alles trieb, baute, schuf und mittels des Stoffes die göttlichen Lebensdome aufrichtete. Da fragten jene mit dem visionären Prophetenkopf:

 

 

Und wie kam diese Kraft in die Materie? Wie überhaupt zu ihrer millionenfachen Individualisierung? Zu der ihr eigenen Bestimmung?

 

Der Mensch kennt keine Kraft, die intelligent ist und aus sich selber wirkt und schafft! Kraft an sich hat ebenso wenig bestimmte klare Willensimpulse wie Stoff! Hier sehen wir aber Schritt um Schritt eine intelligente Macht am Werk!

 

 

Wie sollen wir das verstehen?

 

Und ihnen wurde die finstere Antwort: Das wissen wir nicht, aber es ist, wie wir sagten!

 

Da führten die Weisen schweigend ihre Jünger vor die erhabene Grösse eines gotischen Gotteshauses. Lange standen sie mit ihnen stumm davor, sie ganz in ergriffenes Schauen ziehend, dann sprachen sie also:

 

 

Wer von euch, ihr Schüler, kann sagen, woraus dieser erhabene Dom besteht?

 

Da wunderten sich die Schüler ob dieser selbstverständlichen Frage, denn sie hatten erwartet, die Meister würden ihnen in beredten Worten die Herrlichkeit des Domes weisen. Enttäuscht sprachen sie: Aus Stein, aus Mörtel, Holz, Metall und Glas.

 

 

Was sind diese Dinge?

 

Materie, antworteten die Schüler gleichgültig.

 

 

Fügten und gliederten sich die einzelnen Bestandteile von selber zum Dom?

 

Nein, Es war die Kraft der Werkleute nötig!

 

 

So ist also der Dom das Ergebnis von Stoff und Kraft?

 

Diese Frage machte die Schüler stutzig. Aufmerksam wandten sie ihr Gesicht dem Meister zu. Und einer der Jünger, in dessen Geist das grosse Erleben des gotischen Domes glühte, sprach: Nein, o Meister! Nicht der Kraft der Werkleute und nicht den Baustoffen verdankt der Dom sein Bestehen! Denn die Kräfte der Arbeiter, und wären sie zyklopenhaft, sind an sich bestimmungslos. Da nickten die Meister beifällig und sprachen:

 

 

So sage uns, o Schüler, wem der Dom sein Leben verdankt!

 

Dem Dombaumeister, der ihn erdacht, ersann, durch dessen Gedanken er Form und Leben bekam und der hierzu die Pläne entwarf, nach denen erst gebaut werden konnte.

 

 

Da bestand der Dom also längst, ehe er gebaut war, als Ganzes, mit allen seinen Teilen in der Vorstellung, der Phantasie des Baumeisters? Ist dieser Ideendom, den der Baumeister in seinem Geist und seiner Seele, gleichsam hellsichtig, vor sich sah, etwas Sichtbares?

 

Nein!

 

 

Ist er deshalb, weil er noch nicht gebaut ist, etwas Unvorhandenes, Unwirkliches?

 

Nein, er ist im Reiche des Geistigen, in der Ideenwelt, in seinem inneren Wesen schon da und ist eigentlich der wahre Dom, der tausendmal wirklicher ist als dieser Dom vor uns! Denn ohne diesen Ideendom hätten niemals die Kräfte der Werkleute aus den Materialien dieses erhabene Gotteshaus aufführen können!

 

Recht so, bestärkten die Weisen, und sie setzten hinzu: Ja, der Baumeister mag sogar seit Jahrtausenden tot sein, und doch kann der Bau nach seinen Gedanken gebaut werden, die er in den Plänen niederlegte. Es ist vielleicht kein Stäubchen mehr von ihm in der Erde, seine Gedanken aber leben in ungebrochener Kraft; sie sind unzerstörbar und unsterblich.

 

Die Idee also ist das Organisierende, Gliedernde, das Kräften und Materie erst Bestimmung gibt. Sie allein ist das einzig Wahre! Und da sie unsichtbar ist, nennen wir sie das Geistige.

 

 

Geist also ist der Herr, der Lenker, Leiter; und Gott ist Geist

 

Und dieser Dom vor unseren Augen ist nur sein sichtbares Ergebnis, der sichtbare Ausdruck des unsichtbaren Ideendomes. Wer feines Empfinden hat, der spürt den Geist, der in den Mauern des Domes webt.

 

Und ohne ein weiteres Wort zu reden, gingen die Weisen mit ihren Schülern auf einen freien Platz hinaus, auf dem ein grosser Kirschbaum blühte und duftete. Es summte in ihm vom frohen Arbeitslied unzähliger Bienen, und ein Rotkehlchenpaar sang darin sein märchenzartes Liebeslied. Und einer der Meister nahm das Wort und sprach:

 

 

Wer von euch, ihr Schüler, empfindet nicht diesen Pulsschlag des Lebens?

 

Und wem von euch kommt nicht der Gedanke, dass dieser Baum, die Bienen und jenes Vogelpaar ebenso herrliche Bauwerke, ja, weit herrlichere Bauwerke sind als der zum Himmel weisende gotische Dom!

Und wem von euch steigt nicht die Frage auf nach dem erhabenen Baumeister, der diese göttlichen Dome des Lebens ersonnen?

Denn ist es zu denken, dass diese über alle Massen wunderbaren Lebensdome aus sich selber entstanden? Dass sie ihre Pläne nicht einem Meister verdanken, der höher über uns Menschen steht als wir über Holz und Stein?

 

Nein, jauchzten die Schüler. Es ist dies ebenso wenig zu denken, als dass der Dom aus sich selber entstanden ist!

 

Das Geheimnis der Geschöpfe ist also ebenso wenig ergründet, wenn ich ihre Gehäuse durchwühle und ihre chemischen Bestandteile zerlege, wie das Geheimnis eines gotischen Domes gelöst wäre, wenn ich vor den gewaltigen Haufen seiner Baubestandteile stünde.

 

Der Denkende wird hineingeschleudert in die Ansicht, dass es ein geistiges Prinzip im Weltall geben muss, das all die Millionen von Lebensdomen ersann und nach seinen Ideen gegliedert hat! Da es aber Geist an sich nicht gibt, so müssen wir ein Wesen annehmen, das all die Pläne erdachte, und

 

 

dies haben die Weisen aller Völker und Zeiten in Demut stets mit dem Namen Gott bezeichnet.

 

Wer also mit ungetrübten Sinnen und mit dem Willen, selbst zu denken und tief genug zu denken und mit liebender Freude an den Herrlichkeiten des Lebens sich dem Geheimnis der Geschöpfe hingibt, der muss in ihnen das Werk des göttlichen Meisters erkennen!"

 

 

Hier hält der göttliche Prediger inne. Sein Blick scheint in weite Ferne gerichtet und es liegt ein Glanz in seinen Augen, der die Zuhörer mit tiefer Unruhe erfüllt. Süss dringt der Duft der königlichen Blüte zu ihnen, als wollte er in beredter Predigt von der Kraft des göttlichen Lebens künden. Doch plötzlich steht die Frage im Raum:

 

 

Wie aber, o Meister, fanden diese Pläne Verwirklichung? Und wie kam das was wir das Leben nennen in die Dome?

 

Langsam wendete der Erhabene den Kopf, und ernst in die Augen des Fragers sehend spricht er: "Du machst einen Trugschluss! Nicht das Leben kam in die Formen, sondern die Formen wurden von diesem rätselhaften Etwas, das wir Leben nennen gebaut!" Und mit Nachdruck fortfahrend: "Grosses fragst du, mein Sohn, und wenn es auch nicht zur Gänze zu erklären ist in einigen kurzen Nachtstunden, so will ich doch versuchen, euch immerhin ein Bild zu geben.

 

In Urwelttagen, als die Erde noch kein Leben trug, schwebte Gott über ihr wie eine riesige Feuerwolke. Schöpferfreude war in seiner Brust, und Gedanke um Gedanke bildete sich in seinem Haupte und wurde zum göttlichen Plane (sinnbildliche Ausmalung). Und diese unsichtbaren geistigen Ideendome des Lebens senkten sich auf die ganze Erde wie niederfallende Funken.

 

 

Jeder dieser Funken war also, wie ich es nochmals sagen will, ein Gottesgedanke, und da er aus Gott ist, ist er ein Teil. der Gottheit selber, und somit göttlich und deshalb ewig.

 

Auf Erden begann jeder dieser unsichtbaren Gedankenfunken nach den in ihm webenden, von Gott ihm eingesenkten Impulsen - vermittels des das ganze All erfüllenden und sich zu Atomen zusammenballenden Urbaustoffes - sein sichtbares irdisches Haus zu bauen, so ungefähr, wie die Muschel ihr Gehäuse formt.

 

Im Gegensatz zum Ideendom des winzigen menschlichen Baumeisters, der an sich zu schwach ist, um das Gebäude ohne die physischen Kräfte von Werkleuten aus der Materie aufbauen zu können, begann der Ideendom, den Gott gedacht und dessen gigantische Gewalten in sich trägt, aus sich selber, vermittels dieser ihm innewohnenden Gotteskraft das vom Schöpfer ausgedachte sichtbare Gehäuse auszubauen.

 

Diesen Gottesgedanken, der in sich selber die Kraft trägt, nenne ich den Gottesfunken. Gross ist sein Mysterium und göttlich wie er selber!

 

Denn genau so, wie Gott sich in all den Gottesfunken in die unfassliche Vielheit teilte und dennoch voll und ganz Er selber: die Einheit, blieb, genau das gleiche göttliche Wunder vollbringt seit Ewigkeit jeder Gottesfunke!

 

 

Aus Gott stammend, somit göttlich, vermag er darum dies Göttliche.

 

Dieser geheimnisvolle Gottesfunke ist es, der in den Geschöpfen lebt und webt, ringt und fühlt und denkt, und dem wir Menschen den Rätselnamen Leben gegeben haben.

 

Er, der Unsichtbare, ist das Wahre an allen Lebensdomen, das in allen Erscheinungsformen, ob Atom, Pflanze, Tier, Mensch oder Sonnensystem, glüht und hinter ihnen als das allein Wirkliche steht.

 

Und die körperliche, irdische Erscheinung der Geschöpfe ist nichts anderes als das Äusserliche, sichtbare Abbild des unsichtbaren, göttlichen, innnewohnenden Geistes!"

 

Nach kurzem Schweigen, während die Blicke der Zuhörer gebannt an dem grossen Meister hängen: "So ihr mir also andächtig und in Liebe gefolgt seid, werdet ihr nun zu der Erkenntnis gekommen sein, dass alles Sichtbare dem Unsichtbaren entspringt und es gar keine Welt der sichtbaren, gesetzmässigen Wirkungen geben könnte, wenn ihr nicht eine Welt der unsichtbaren, geistigen Ursachen vorausginge!

 

So ihr dies aber zwingend erkannt habt, dann wisst ihr auch, dass dies, was wir sehen, nicht das Wahre, nicht das Geschöpf an sich ist, sondern bloss Schein, Trug, holder Wahn oder, wie der Inder sagt: Maja.

 

Maja ist alles, wohin wir schauen, dieser Baum und diese Blume, ja selbst der Himmel mit seinen Millionen von Sternen ist Maja. Wir selber sind Maja: das sterbliche Gehäuse des in uns wohnenden unsterblichen Gottesfunkens, für den unser Leib ein ähnliches ist wie für unseren Körper das Kleid. Und wehe dem Menschen, der sein Wahres, Göttliches nicht erkennt, es vernachlässigt und, vom Irrtum der Maja bestrickt, sein ganzes Augenmerk auf das vergängliche Gehäuse, auf die Sorge um das Wohlergehen des irdischen Leibes verwendet!

 

Denn Stoff ist sterblich vergänglicher Wahn; Geist aber ist unsterbliche Wirklichkeit!

 

Wenn wir die Dinge selbst sehen könnten, wie sie in Wahrheit sind, das unsichtbar Göttliche, so würden wir etwas rein Geistiges schauen, das weder mit der Geburt anfängt noch mit dem Tod endet, denn dieses Geistige ist ewig, und was uns als Tod erscheint, ist kein Tod, denn auch der Tod ist Maja, Menschenwahn, auch Tod ist Trug! Tod ist nichts anderes als das Ablegen eines Kleides, das unbrauchbar geworden ist. Denn was wir ins Grab senken, ist nicht das Wesen, sondern bloss das Gehäuse, in dem das Wahre gewirkt hat.

 

Ihr könntet mich nun bange fragen, ob es also nicht vonnöten wäre, sich gänzlich über die Maja zu erheben, sie voll kommen gering zu achten und sich zu bemühen, ganz nur im Geistigen zu leben und in ihm aufzugehen.

 

Ich entgegne euch: Einst wird die Zeit kommen, wo es kein Irdisches mehr, wo es nur Geistiges geben wird, doch bis diese Zeit sein wird und solange uns die Maja noch so umstrickt, wir selber noch so sehr als Majamenschen uns fühlen, so lange müssen wir uns auch mit ihr auseinandersetzen, ja, müssen sie heilig halten und lieben, denn sie ist das Tabernakel des Göttlichen.

 

Und die Maja des Stoffes ist ja so schön, so himmlisch und über alle Massen weise und wunderbar in ihrem Bau, dass es sich wahrlich lohnt, sie zu erforschen.

 

Wer dies aber mit der Hingabe des Herzens tut, treibt Gottesdienst - und nähert sich der Gottheit selber. Und der Geist des Lebens umweht diesen Frommen mit seinem himmlischen Hauche und erschliesst ihm das höchste Glück der Erde. Er wird zu einem Menschen, von dem es in der Bibel heisst: "Und sie werden Gott schauen".

 

Und in diesem Schauen, das durch die vergänglichen Hüllen sieht, wird er sich eins fühlen mit aller Kreatur, ihm erschliesst sich die geistige Bruderschaft alles Seienden, und in diesem Einswerden verschmilzt er mit Gott. Gott nicht nur in sich selber, sondern in jedem Geschöpfe erkennend.

 

In diesem Sinne sollen wir die Maja des Stoffes von ganzem Herzen lieben: in ihr den Dom sehend, den der heilige Gottesfunke sich gebaut und in dem er thront. Und in dem er sich mühend aufwärts ringt zum Licht der Gottheit, dem er einst entströmt.

 

Aus diesem Erkennen heraus wird ihm das Leben erst etwas Heiliges. Eine gemeinsame Pilgerfahrt der göttlichen Funken aufwärts zum Throne des Vaters." Der Erhabene schweigt. Der Mond ist untergegangen, und aus dem Dämmerdunkel des Gartens leuchtet die heilige Blüte wie ein grosses, mildes Auge. Die Lauschenden sitzen regungslos wie die Jünger eines Vollendeten. Auf ihren Herzen lastet die Wucht des Geoffenbarten. Die Worte des Erleuchteten haben eine Welt vor ihnen erschlossen, so gross, so strahlend, dass sie in überirdisches Lichtland zu schauen vermeinen. Sie haben jedes Zeitmass verloren in ihrer Versunkenheit. An ihr Ohr dringt eine Stimme:

 

"Gross und heilig ist die Aufgabe des Menschen. Die Natur hat ihn hoch hinaufgehoben über jede Kreatur, deren Helfer er sein soll. Darum ist Gleichgültigkeit oder gar Roheit gegen die Geschöpfe der Natur eine Sünde, die nicht vergeben wird!

 

Lasst uns geloben in dieser Stunde, nie mehr ohne helfende Liebe den Garten Gottes zu betreten und mit freudiger Hingebung der heiligen Aufgabe zu leben, die unsere Krone ist: helfende Brüder zu sein!"

 

 

Zwölf Augen ruhen auf der einem Märchenwunder gleichenden Blüte. Umfangen sie mit der Zärtlichkeit wissender Herzen. In diesen Herzen aber brennt eine Flamme, die nie mehr verlöschen wird. Die Flamme wissender Bruderliebe zu allem Lebendigen.

 

Weihevolle Tempelstille erfüllt den Garten.

 

 

Aus "Der Sonnenbruder" von Hans Sterneder

 

 

 

 

 

 

 



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